SAG MIR WO DIE BLUMEN SIND
Sag mir wo die Blumen sind,
Wo sind sie geblieben
Sag mir wo die Blumen sind,
Was ist geschehen?
Sag mir wo die Blumen sind,
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je verstehen,
Wann wird man je verstehen?
Sag mir wo die Männer sind
Wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Männer sind,
Was ist geschehen?
Sag mir wo die Männer sind,
Zogen fort, der Krieg beginnt,
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen
Sag wo die Soldaten sind,
Wo sind sie geblieben?
Sag wo die Soldaten sind,
Was ist geschehen?
Sag wo die Soldaten sind,
Über Gräben weht der Wind
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
Sag mir wo die Gräber sind,
Wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Gräber sind,
Was ist geschehen?
Sag mir wo die Gräber sind,
Blumen wehen im Sommerwind
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
KRIEGSTRAUMA-ERBIN
Ich bin Pazifistin, Kriegsenkelin, Flüchtlingskind und Halbschlesierin – die jüngste Tochter von Charlotte, einer Flüchtlingsfrau und Gutsbesitzertochter aus Niederschlesien, und Gerhard Schüßler, einem Bauern und ehemaligen Kriegsteilnehmer, Wehrmachtssoldaten aus Unterfranken.
Meine Wurzeln liegen in einer Familie, die von Krieg, Flucht und Vertreibung tief geprägt wurde. Meine Eltern waren bei Kriegs-beginn keine Kinder mehr, sondern bereits 18 und 19 Jahre alt. Meine Großeltern litten schwer unter den Folgen beider Kriege.
Als spirituelle und hochsensible Künstlerin spüre ich die Nachwirkungen dieser Vergangenheit bis heute.
Ich gehöre zu einer Generation, die das schwere Erbe ihrer Eltern und Großeltern trägt – der Generation der Kriegsenkel. Unsere Eltern und Großeltern haben Unvorstellbares erlebt: Krieg, Todesangst, den Verlust von Heimat und Familie, Hunger, Flucht, Verfolgung und Gewalt. Viele von ihnen haben ihre Erlebnisse tief in sich verschlossen, weil das Leben weitergehen musste und vieles unaussprechlich blieb. Fragen halfen oft nicht weiter, und die Erinnerungen an das Grauen, den Mangel und die Entbehrungen wurden lieber verdrängt.
Doch die Vergangenheit verschwindet nicht einfach. Sie lebt in uns weiter – in unserer Sehnsucht nach Sicherheit, in dem Gefühl von Heimatlosigkeit, in unerklärlichen Ängsten oder familiären Mustern, die wir nicht immer verstehen. Als «Kriegstrauma-Erbin« habe ich gelernt, diese verborgenen Spuren zu erkennen und mich ihnen zuzuwenden.
«Denn wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen.
Wer die Gegenwart nicht versteht, kann die Zukunft nicht gestalten.»'
Nach 17 Jahren akribischer Ahnenforschung, gekrönt von einer unglaublichen Reise 2024 in die Heimat meiner schlesischen Vorfahren, sehe ich meine Geschichte nicht mehr nur als Last, sondern auch als Aufgabe und Chance: Die Wunden anzuschauen, Heilung zuzulassen und neue Wege zu gehen. Für uns hochsensible Menschen sind die Aufträge aus der Vergangenheit besonders schwer zu tragen, besonders, wenn wir in einem schwierigen Umfeld aufgewachsen sind. Oft spüren wir das Bedürfnis, uns um unsere Eltern zu kümmern, etwas wiedergutzumachen oder dafür zu sorgen, dass es ihnen gut geht. Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen – aber wir können sie verwandeln. Indem wir hinschauen, verstehen und vergeben, schaffen wir Raum für Frieden – in uns selbst und in der Welt.
Ich möchte allen Menschen, die das schwere Erbe ihrer Vorfahren tragen und das Schweigen der Vergangenheit spüren, Mut machen. Mut, ihre eigenen Wurzeln zu erforschen, das Schweigen zu brechen und gemeinsam neue Wege zu finden. Denn aus dem Erbe des Schmerzes kann Hoffnung wachsen.
DAS ERBE IN UNSEREN GENEN
Wie die Traumata unserer Vorfahren unser
Leben belasten
Wissenschaftlich ist belegt: Krieg, Flucht und andere Extrem-ereignisse können tiefe Spuren in der Psyche hinterlassen und über Generationen weitergegeben werden. Epigenetische Veränderungen in der DNA machen Nachkommen anfälliger für Ängste, Depressionen oder stressbedingte Erkrankungen wie Krebs –
wie ich es selbst erlebt habe.
Mein Erbe als Flüchtlingskind
Das Leid meiner Eltern und Großeltern wurde verdrängt, doch es prägte mein Leben und hatte schon vor meiner Geburt immensen Einfluss auf meine Gesundheit. Meine eigenen schweren Erkrankungen zeigten: Unverarbeitete Traumata wirken weiter. Erst meine Krebserkrankung brach dieses Schweigen und führte mich zu meiner Geschichte.
Was der Krieg in deutschen Seelen angerichtete hatte, darüber wurde lange geschwiegen. "Es war vermintes Gebiet", so die Professorin Heide Glaesmer, Traumaforscherin an der Universität Leipzig. Die Deutschen als Opfer zu betrachten, hieß das nicht, den Holocaust zu bagatellisieren? Die eigenen Leiden zu betrauern schien dem Tätervolk nicht gestattet. "In vielen Familien herrschte
ein konspiratives Schweigen", berichtet Glaesmer. Die Eltern verdrängten das Erlebte. Die Kinder spürten zwar, dass Wichtiges unausgesprochen blieb. Doch auch sie schwiegen, um die Eltern nicht zu belasten. "Es gab keinen Austausch", sagt die Trauma-forscherin. Und somit auch keine Möglichkeit für Verarbeitung und Verständnis.
Mein Weg der Versöhnung
Die Schrecken des Krieges wirken in mir nach, obwohl ich sie nie erlebte. Mein Buchprojekt, inspiriert von meiner Ahnenforschungs-reise nach Schlesien, erzählt das Schicksal meiner Mutter – stell-vertretend für Millionen vertriebene Schlesier – und meinen Weg der Heilung.
Transgenerationale Traumaweitergabe
Studien, etwa vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie, bestätigen: Traumata können das Erbgut verändern, selbst bis in die dritte Generation. „Die Seele ist verwundbarer“, sagt Traumaforscherin Heide Glaesmer. Besonders wenn weitere Belastungen hinzukommen, steigt die Gefahr psychischer Erkrankungen.
Epigenetik 🧬Das Erbe in unseren Genen
Wie gesund oder krank, ängstlich oder mutig, glücklich oder schwermütig wir sind, hängt auch davon ab, was unsere Vorfahren erlebt haben. Lebenserfahrungen unserer Eltern und Großeltern können unser Leben prägen. Stress und Traumata können in manchen Fällen von einer Generation auf die andere übertragen werden. So können gesundheitliche Folgen geschichtlicher Ereignisse wie Kriege und Hungersnöte innerhalb von Familien weitergegeben werden. Eltern beeinflussen schon vor der Zeugung, wie gesund, glücklich und erfolgreich ihre Kinder einmal werden. Was wir heute erleben, kann Jahrzehnte später eine Rolle spielen.
DUNKLE ENERGIEN VON ZWEI WELTKRIEGEN HATTEN SICH WIE SCHIMMEL IN MEIN ELTERNHAUS GEFRESSEN
«Dunkle, morbide Energien der grausamen Kriege hatten sich wie Schimmelpilz in jede Ritze und jeden Stein meines Heßdorfer Elternhauses gefressen.»
Als Kind wollte ich von all diesen Kriegsgeschichten nichts hören. Sie hätten mir ohnehin nichts erzählen müssen, denn meine empfindsame Kinderseele spürte und litt unter den dunklen, morbiden Energien der grausamen Kriege, die sich wie Schimmelpilz in jede Ritze und jeden Stein meines Heßdorfer Elternhauses gefressen hatten.
Aber diese finstren Energie steckten nicht nur in unserem Haus, sondern im ganzen Dorf, in den Seelen der Überlebenden.
HESSDORF IN DER NACHKRIEGSZEIT
Erinnerungen an eine Kindheit im Schatten der Geschichte
In den 1950er bis 1970er Jahren war das Leben in meinem unterfränkischen Heimatdorf Heßdorf – dem kleinen, friedlichen 300-Seelen-Dorf am Kuhbach zwischen Gemünden und Hammelburg – noch immer stark von den Kriegsjahren geprägt. Ich wuchs dort als Nesthäkchen in den 1960ern in einer ungewöhnlich offenen und toleranten Familie auf und genoss eine beinahe antiautoritäre Kindheit sowie eine freigeistige Hippie-Jugend in den 1970ern.
Jüdisches Erbe und Schuld
Heßdorf hatte einst eine bedeutende jüdische Gemeinde. Zu unserem Anwesen gehörte ein altes Haus, ein ehemaliger jüdischer Kaufladen. Ich erinnere mich noch gut an einige jiddische Wörter und Redewendungen meiner etwas verschrobenen Tante Lydia, einer begnadeten Köchin, der ich als Baby anvertraut wurde, weil meine Mutter völlig überfordert war. Die dunklen Seiten der Dorfgeschichte waren für mich als Hochsensible besonders spürbar: Wie viele Jugendliche war mein Vater in der Hitlerjugend. In der Reichspogromnacht 1938 jubelte er gemeinsam mit seinen Schulkameraden – damals kaum älter als 17 –, als die Synagoge von auswärtigen SA-Schergen in Brand gesetzt wurde, ohne das Ausmaß seines Tuns zu begreifen. Ich war entsetzt, als ich später davon erfuhr, und spürte die Last dieser Geschichte bis in meine eigene Gegenwart.
Krieg und die Task Force Baum
Am 26. März 1945 startete die Task Force Baum mit rund 300 Soldaten und etwa 50 Fahrzeugen von Aschaffenburg aus. Ihr Weg führte sie unter anderem durch Gemünden am Main. Diese US-Einheit sollte tief hinter die deutschen Linien vorstoßen, scheiterte jedoch bei Höllrich nahe Heßdorf: Fast alle 300 Soldaten wurden getötet oder gefangen genommen, nur wenigen gelang die Flucht. Ende März 1945 rollten alliierte Panzer durch Heßdorf auf dem Weg von Gemünden nach Hammelburg. Ziel war die Befreiung alliierter Kriegsgefangener, darunter General Pattons Schwiegersohn. Erst am 5. April 1945 wurde das Lager durch reguläre US-Truppen befreit.
Die meisten jungen Männer, die Bauernsöhne Heßdorfs, waren Ende März 1945 entweder – wie mein Vater – in Kriegsgefangenschaft oder, wie die beiden älteren Brüder meines Vaters, an der Ostfront gefallen. Paul Schüßler, der Älteste, fiel am 8. März 1945, drei Tage nach seinem letzten Brief nach Heßdorf, in einem eisigen Bunker in Oberschlesien in der Nähe von Ratibor. Er wurde nordwestlich von Rotental (Czerwięcice, 1936–1945 Rotental) von einer russischen Granate getötet.
Ob meine schlesische Mutter, die Kriegerwitwe, nach wochenlanger Flucht Ende März 1945 mit ihrer kleinen Tochter, meiner Halbschwester, noch in einem Flüchtlingslager oder schon in Höllrich lebte, werde ich nie erfahren. Es ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie 1948, drei Jahre später, in Höllrich meinen Vater nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft kennenlernte, sich verliebte – und dass ich neun Jahre später gezeugt wurde.
Kriegstrauma im Dorf-Alltag
Die Spuren des Krieges lebten im Dorf weiter. Ich erinnere mich an einen alten, schwer traumatisierten Veteranen – für uns Kinder der „irre Philipp“ –, der jedem, dem er begegnete, mit seiner Krücke gen Himmel drohend zurief: „Die Russä kommä!“ Erst nach vielen Jahren Ahnenforschung wurde mir klar, dass der bedauernswerte „irre Philipp“ wahrscheinlich ein physisch, aber nicht psychisch überlebender Schulkamerad meiner im Russlandfeldzug gefallenen Onkel war.
Besonders im oberen Stockwerk, wo meine Oma Helene ihre Räume und wir Kinder unsere Zimmer hatten, war die Vergangenheit allgegenwärtig: In Omas Schlafzimmer hingen die gerahmten Fotos ihrer beiden gefallenen Söhne, Heinrich und Paul – meine Onkel, die ich nie kennenlernen durfte. Im großen Eichenholzschrank, der wie ein Schrein wirkte, lagen die Feldpostbriefe ihrer geliebten, gefallenen Söhne, dazu ein Offizierssäbel, ein Dolch und Pauls Reitpeitsche. Auch alte Reichsbanknoten aus der Inflationszeit waren dort sorgsam aufbewahrt.
Vom Kellergewölbe bis zum Dachboden, in der Scheune und in den Ställen – überall fanden sich Spuren der Vergangenheit. Auf dem Dachboden baumelte eine unheimliche Gasmaske, vermutlich noch aus dem ersten Weltkrieg an einem Eichenbalken. In der Futterkammer diente der Tropenhelm meines Vaters aus dem Afrikafeldzug als Getreidebehälter. Etwas makaber war der Aschenbecher, gefertigt aus zwei Hälften einer Handgranate.
Überall – im Wohnhaus, in der großen Scheune, in den Ställen unseres alten fränkischen Fachwerk-Bauernhofs aus dem 18. Jahrhundert – fanden sich Reliquien, Gegenstände, Bilder, die an den Krieg erinnerten. Ställen unseres alten fränkischen Fachwerk-Bauernhofs aus dem 18. Jahrhundert – fanden sich Reliquien, Gegenstände, Bilder, die an den Krieg erinnerten.
Eine Messingschale, hergestellt aus einer Granatenhülse, begleitet mich bis heute durch all meine Umzüge – obwohl sie eigentlich gar nicht besonders schön ist. Sie ist jedoch ein Stück „Graben- oder Kriegskunst“, Für viele Soldaten und Familien wurden solche Alltagsgegenstände aus Kriegsresten zu Erinnerungsstücken, die bis heute Geschichten von Verlust, Überleben und Erinnerung bewahren.
Im Wohnzimmer meiner Eltern stand im Schleiflack-Vitrinenschrank aus den 1950er Jahren ein versilberter Eiffelturm, ein Mitbringsel vom Frankreichfeldzug meines Vaters. An der Wand hing ein Stillleben mit Mohnblumen in Öl auf Leinwand, ein Werk eines künstlerisch begabten Mitgefangenen, das mein Vater aus der US-Gefangenschaft mitgebracht hatte.
Mutters Schmuck-Schatulle – eine schlesische Zeitkapsel
Wenig materielles erinnerte an das schlesische Erbe meiner schlesischen Mutter. Nur diese wunderbare geschnitzte schlesische Schmuckschatulle, Teil ihres "Fluchtgepäcks", die ich liebe und hüte wie meinen Augapfel, denn sie riecht noch nach meiner geliebten Mutter.
Für mein Knötchen ❣️
In dieser Schatulle lebt ein Stück schlesische Heimat,
bewahrt von deiner Hand, getragen durch schwere Zeiten.
Sie duftet nach Erinnerungen, nach Geborgenheit und Liebe.
Ich hüte sie wie meinen Augapfel – als Zeichen deiner Stärke und unseres Bandes,
das niemals zerreißt.
Und da war das gerahmte, einzig existierende Foto meiner schönen schlesischen Großmutter Klara, die meine Mutter – damals erst 24 Jahre alt – im Sommer 1944 ganz allein beerdigen musste, nur fünf Monate vor ihrer eigenen Flucht.
Klara Pauline Schott
geborene Nalepa 💔
*8. März 1899 Kentschkau/Breslau
†13. August 1944 Sankt-Adalbert-Hospital Oppeln
«Ihr müsstet doch von den Konzentrationslagern gewusst haben – warum habt ihr weggesehen?«
Als Jugendliche war ich stark politisch geprägt, ideologisch verblendet und radikal links eingestellt. Ich fühlte mich als Proletarierkind und wetterte: „Ich versteh’ euch nicht, wie kann man nur als Arbeiter und Bauern die CSU wählen?“ In meiner jugendlichen Rebellion habe ich meine Eltern oft hart und ungerecht beurteilt. Ich warf ihnen vor: „Ihr müsstet doch von den Konzentrationslagern gewusst haben – warum habt ihr geschwiegen?“ und beschimpfte sie sogar als Nazis.
Charlotte Schott - braves Deutsches Mädel
Meine Mutter erzählte mir – zu meinem damaligen Leidwesen – immer wieder begeistert von ihrer Zeit als „fesches BDM-Mädel“. „Ach, das waren noch schöne Zeiten beim BDM, da sind wir noch marschiert“, schwärmte sie gerne. Erst viel später erfuhr ich, dass mein schlesischer Großvater, ein Gutsbesitzer, Hitler zutiefst verachtete und ablehnte. Die Begeisterung seiner Tochter Lotte für den „braunen Mädelsbund“ dürfte ihm daher wenig Freude bereitet haben. Doch hätte er ihr die Mitgliedschaft untersagt, hätte das für ihn ernsthafte Konsequenzen gehabt. Ab 1936 waren nämlich alle Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren – sofern sie nicht aus „rassischen Gründen“ ausgeschlossen waren – per Gesetz zur Mitgliedschaft im BDM verpflichtet. Auch meine Mutter Charlotte war damals 16 Jahre alt.
Ob ihr das Marschieren und Singen beim BDM tatsächlich so sehr gefallen hat, dass sie noch fast 40 Jahre später, in den 1970er Jahren, bei einem unserer Spaziergänge an einem sonnigen Frühlingstag fröhlich und mit voller Stimme „Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen“ anstimmte? Oder wollte sie mit ihrem Gesang einfach nur ihre rebellische und kritische Tochter provozieren? Gut, dass uns damals niemand hörte. Ich lief trotzig hinter ihr her und versuchte, sie mit der „Internationale“ zu übertönen: „Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht!“
Charlotte Frei, geborene Schott – die mutige Judenretterin
In meiner jugendlichen Rebellion habe ich meine Eltern oft hart und ungerecht beurteilt. Damals war mir nicht bewusst, wie sehr ich meinen Eltern damit Unrecht tat. Erst viel später erfuhr ich, dass meine Mutter 1943 sich selbst in große Gefahr gebracht hatte, weil sie als Verwaltungsangestellte im Namslauer Landratsamt (Niederschlesien) eine befreundete jüdische Familie vor der drohenden Deportation gewarnt hatte. Nur durch den Einfluss und die Fürsprache ihres ersten Ehemannes, eines angesehenen Piloten der Luftwaffe, konnte sie einer Verhaftung oder sogar der Deportation ins KZ entgehen und wurde nicht selbst Opfer der NS-Verfolgung.
Das zeigt, wie willkürlich und gefährlich das System war – und wie wichtig persönliche Netzwerke und Beziehungen in Extremsituationen sein konnten. Meine Mutter hat durch ihre mutige Warnung an eine jüdische Familie ihr eigenes Leben riskiert.
Die Verwaltung auf Kreisebene war direkt in die Organisation und Durchführung der sogenannten „Evakuierungen“ und Deportationen eingebunden. Verwaltungsangestellte erhielten Anweisungen, Listen zu führen, Transporte zu organisieren und die Umsetzung der NS-Befehle zu überwachen. Über diese Tätigkeit konnten sie zwangsläufig erfahren, wann und wohin jüdische Familien aus ihrem Kreis deportiert werden sollten. Die Zahl derjenigen, die sich aktiv gegen die Judenverfolgung stellten, war sehr gering, aber ihr Handeln konnte für die Betroffenen lebensrettend sein. Gerade Verwaltungsangestellte wie meine Mutter, die Zugang zu sensiblen Informationen hatten, spielten in Einzelfällen eine entscheidende Rolle, indem sie Listen weitergaben oder vor drohenden Maßnahmen warnten.
DAS KRIEGSSCHICKSAL MEINES FRÄNKISCHEN VATERS
Die Indoktrination begann bereits im Kinderzimmer
Ab 1936 wurde die Hitlerjugend zur alleinigen Staatsjugendorganisation erklärt, ab 1939 galt die Zwangsmitgliedschaft für alle deutschen Kinder und Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren. Die HJ diente der systematischen Indoktrination und Vorbereitung auf den Kriegsdienst.
Mein Vater Gerhard, der wie alle seine Schulkameraden schon mit 15 Jahren in der HJ indoktriniert wurde, zeigte später eine ganz andere Seite: Holocaust-Überlebende, die früher Nachbarn waren, besuchten ihn, den ehemaligen Hitlerjungen nach dem Krieg in unserem Dorf. Das zeigte mir, dass mein Vater kein Judenhasser war, sondern ein mitfühlender und hilfsbereiter Mensch.
Gerhard Schüßler war von Beginn des Krieges bis zu seiner Gefangennahme am 20. August 1944 in Falaise Sanitäter der Luftwaffe. In diesem Vernichtungskrieg hat er eher Menschenleben gerettet als vernichtet. Hätte mein Vater verweigert, gäbe es mich nicht – er wäre entweder ins KZ gekommen oder standrechtlich erschossen worden.
Nürnberger Prozesse
Und wäre Sani tatsächlich ein „böser Nazi“ oder an Verbrechen der Wehrmacht beteiligt gewesen, wäre er wohl kaum 1948 – nach erfolgreicher Entnazifizierung – als Wachmann der MP bei den Nürnberger Prozessen eingesetzt worden. Das war eine große Ausnahme, denn nur wenige ehemalige Wehrmachtssoldaten aus unserer Region erhielten diese Chance.
Heute tut es mir leid, dass ich meinen Vater als verblendete Jugendliche so oft mit Vorwürfen überhäuft habe, statt ihn nach seinen Erlebnissen bei den Nürnberger Prozessen zu fragen.
Als ich ihn später doch einmal danach befragte, antwortete er mir – in seinem typischen fränkischen Dialekt – mit einer besonders makabren Erinnerung:
«‘Death by hanging’, hamse g’sacht.»
Sanis Schweigen über den Krieg – und seine Erzählungen aus der US-Gefangenschaft
Wir nannten meinen Vater, Gerhard Schüßler, „Sani“, weil er im Zweiten Weltkrieg als Sanitäter diente. Warum mein Vater nur ungern von seiner Zeit als Soldat sprach, dafür aber umso lieber und begeistert von seiner Zeit in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft erzählte, habe ich erst viele Jahre nach seinem und auch nach dem Tod meiner Mutter verstanden – als ich begann, mich intensiv mit unserer Familiengeschichte zu beschäftigen.
Wie hätte unser Sani auch von den verstümmelten Leichen erzählen sollen, von zerrissenen Körpern, von Kameraden, die in seinen Armen starben? Vom Geruch nach Blut und Äther im Lazarett, von den Schreien der Schwerverwundeten? Wer spricht schon davon, auf dem Schlachtfeld unter ohrenbetäubendem Lärm, in Todesangst und bei unerträglichem Gestank nach Verwesung tote Kameraden zu bergen oder ihren Tod mitansehen zu müssen? Diese Erinnerungen waren unaussprechlich. Für meinen Vater muss daher die anschließende Kriegs-gefangenschaft nach fünf langen Jahren als Sanitäter und Fallschirmspringer fast wie ein Erholungsurlaub gewesen sein.
Mein fränkischer Vater Gerhard wurde 1939, mit gerade einmal 18 Jahren, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eingezogen.
Fünf Jahre lang musste er als Sanitäter der Luftwaffe auf zahlreichen Schlachtfeldern seinen Dienst für „Führer und Vaterland“ leisten – bis zu seiner Gefangennahme am 20. August 199 im Kessel von Falaise (Normandie)
Gerhard Adam Schüßler
*8. Januar 1921 Heßdorf
†21. November 1998 Heßdorf
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9. Januar bis 25. April 1943 – Mein Papa Sani mit dem Wüstenfuchs in Tunesien
Wir nannten meinen Vater, Gerhard Schüßler, „Sani“, weil er im Zweiten Weltkrieg als Sanitäter diente. Diesen Spitznamen habe ich ihm gegeben – ich, seine jüngste, freche und rebellische Tochter Petra, die eigentlich ein Peter werden sollte. Für meine Mutter war er meist „Gerd“, doch wenn sie von ihm sprach, war er immer unser „Sani“.
Er war ein echtes fränkisches Original mit einem großen Herzen und einem noch größeren grünen Daumen* – und alle, die ihn kannten, haben ihn dafür geliebt.
Mitten im Dorf hatte er auf unserem Grundstück ein kleines Wäldchen angelegt und überall am Bach entlang Bäume gepflanzt. Unser Hof war der grünste und schönste – mit Palmen und Lilien, Funkien in hölzernen Fässern, zwei großen Birken, einer riesigen Trauerweide, und echter Wein rankte sich an den Außenfassaden des Wohnhauses.
Als mein Vater, Sanitätsobergefreiter und Fallschirmschütze Gerhard Schüßler, mit nur 22 Jahren am 9. Januar 1943 in Tunesien eintraf, befanden sich die deutsch-italienischen Truppen bereits in einer kritischen Lage. Nach schweren Verlusten in Ägypten und Libyen hatten sich die Achsenmächte nach Tunesien zurückgezogen. Hitler schickte weitere Verstärkungen, um den Brückenkopf zu halten – darunter vermutlich auch meinen Vater. Bis Mai 1943 wurden rund 137.000 deutsche und über 40.000 italienische Soldaten nach Tunesien verlegt.
1. Mai 1943 – das Armband Afrika
Mein Vater Gerhard Schüßler erhielt am 1. Mai 1943 das Armband Afrika vom Oberbefehlshaber Süd. Das Armband Afrika spielte keine spezifische Rolle in der militärischen Hierarchie, sondern war eine Auszeichnung für den Einsatz deutscher Soldaten in Nordafrika während des Zweiten Weltkriegs. Es war eine Kampfauszeichnung, die an Angehörige der deutschen Wehrmacht verliehen wurde, die in Nordafrika gekämpft hatten.
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Mai 1940-1942
Sanitätsgefreiter・ Luftwaffe Sanitätsbereitschaft - motorisiert 13 XI
Fliegerhorstkommandantur (E) 14/VI in Epinoy-Haynecourt ・Nordfrankreich
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10. Oktober 1942 ....................... Fallschirmschützenabzeichen
Juni 1942 - August 1944 ....... Sanitäts-Obergefreiter
3. Fallschirm Division
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9. 1. - 25. 4. 1943 .............................. Einsatz Afrika Tunesien
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17. 7. - 15. 1. 1944 .............................. Sicherung in Südfrankreich
16. 1. - 20. 2. 1944 ............................ Sicherung Raum Chalons s. Marne
21. 2. - 6. 6. 1944 ............................... Sicherung in der Bretagne
7. 6. - 19. 8. 1944 ............................... Einsatz Invasionsfront Normandie
20. August 1944 ............................... Gefangennahme in Falaise (Normandie
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Rommels letzte Schlacht – Tunisgrad*
*Aufgrund des Ausmaßes der Verluste wurde die Niederlage oft als "Tunisgrad" bezeichnet, in Anspielung auf die Katastrophe von Stalingrad.
Die Schlacht am Kasserine-Pass
Ein besonders einschneidendes Erlebnis war die Schlacht am Kasserine-Pass vom 14. bis 25. Februar 1943, die Erwin Rommel persönlich leitete. Es war das erste größere Aufeinandertreffen deutscher und amerikanischer Truppen im Zweiten Weltkrieg und zeichnete sich durch heftige Gefechte aus. Gerade in solchen Momenten war die medizinische Versorgung, wie sie mein Vater leistete, von entscheidender Bedeutung.
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6. JUNI 1944 – OPERATION OVERLORD UND DER D-DAY
Am 6. Juni 1944, dem sogenannten D-Day, landeten kanadische Soldaten an einem der fünf alliierten Landungsabschnitte der Normandie, dem sogenannten Juno Beach. Juno Beach war nach Omaha Beach der am stärksten verteidigte Sektor.
Die deutschen Verteidigungsstellungen an Juno Beach am 6. Juni 1944 waren Teil des sogenannten Atlantikwalls, einem umfangreichen System aus Bunkern, Geschützstellungen, Minenfeldern und Hindernissen entlang der französischen Küste.
Im Juni 1944 waren Sanitäts-Obergefreite der Luftwaffe, die zur 3. Fallschirmjäger-Division, der mein Vater angehörte, zunächst im Raum Brest (Bretagne) stationiert. Nach dem D-Day wurden sie ab dem 7. Juni 1944 an die Invasionsfront in der Normandie verlegt, wo sie in den Kämpfen gegen die alliierten Truppen, insbesondere im Raum Saint-Lô, eingesetzt wurden.
DIE HÖLLE VON FALAISE
Die „Hölle von Falaise“ steht heute als Synonym für das Grauen und die Zerstörung dieser letzten großen Schlacht der Normandie, die mit der Befreiung der Region und dem Zusammenbruch der deutschen Westfront endete. Die „Hölle von Falaise“ bezeichnet die dramatischen und verlustreichen Endkämpfe im sogenannten Kessel von Falaise im August 1944. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie gelang es ihnen, die deutschen Truppen südlich von Caen einzukesseln und einzuschließen. Zwischen dem 19. und 22. August 1944 schlossen sich die alliierten Truppen – darunter Kanadier, Briten, Amerikaner und vor allem polnische Einheiten – bei Falaise und Chambois zusammen und schnitten Zehntausende deutsche Soldaten von Rückzugswegen ab.
US-General Dwight D. Eisenhower beschrieb das Schlachtfeld südlich von Falaise, dem letzten Einsatz meines Vaters als Sanitäter, später inseinen Memoiren als „einen der größten Vertilgungsplätze aller Kriegsgebiete“. Eisenhower fühlte sich an Dantes „Inferno“ erinnert:
«Man ging stellenweise buchstäblich Hunderte von Metern nur auf abgestorbenem und verwesendem Fleisch.«
20. AUGUST 1944 SANIS GEFANGENNAHME IN FALAISE
Gerhard Schüßler
Sanitäts-Obergefreiter, 3. Fallschirm Division
21. 2. - 6. 6. 1944 Sicherung in der Bretagne • 7. 6. - 19. 8. 1944 Einsatz Invasionsfront Normandie
Am 20. August 1944 geriet mein Vater Gerhard Schüßler nach 10 Wochen Einsatz als Sanitäter
an der Invasionsfront, im Kessel von Falaise, in Gefangenschaft.
Die Kesselschlacht von Falaise gilt als eine der grausamsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Als Sanitäter war mein Vater für die Erstversorgung von Verwundeten direkt an der Front verantwortlich. Unter lebensgefährlichen Bedingungen mussten Verletzte stabilisiert und für den Abtransport vorbereitet werden. Besonders herausfordernd war die schnelle Evakuierung aus dem Gefahrenbereich zu den nächsten Sanitätsposten oder Feldlazaretten. Sanitäter mussten auch, wie auch dem nachfolgenden Archivfoto von der Normandie Front von 1944 des Bundesarchivs gefallene alliierte Soldaten bergen.
PRISONER OF WAR 1944-1947
US-Gefangenschaft meines Vaters: Ein persönlicher Rückblick
Von Camp Livingston nach Camp Forrest
Nach zwei Monaten im US-Gefangenenlager Camp Livingston Louisiana WWII Army Camp Louisiana wurde mein Vater, Gerhard Schüßler, im Dezember 1944 in das Kriegsgefangenenlager Camp Forrest nach Tennessee verlegt. Dort verbrachte er zwei Jahre, bis Mai 1946. Camp Forrest war ab Mai 1942 eines der größten Gefangenenlager der USA. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren dort mehr als 24.000 italienische und deutsche Kriegsgefangene untergebracht.
Die Zeit in englischer Gefangenschaft
Nach seiner Zeit in den USA wurde mein Vater im Juni 1946 in das englische Camp 23 in Worcester überstellt. Dort blieb er noch bis zu seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Juni 1947 – also zwei Jahre nach Kriegsende.
Erinnerungen an die US-Gefangenschaft
Mein Vater bekam regelrecht ein Leuchten in den Augen, wenn er von seiner Zeit in US-Gefangenschaft erzählte. Besonders schwärmte er vom „Thanksgiving Turkey“. Da Essen für ihn – wie auch für mich, seine Tochter – immer oberste Priorität hatte, war er mehr als zufrieden mit seiner Arbeit als Küchenhilfe. Die Kriegsgefangenen wurden in den US-Lagern tatsächlich sehr gut behandelt. Mein Vater musste nicht hungern wie die Menschen in der zerstörten Heimat.
Arbeit und Alltag im Lager
Arbeiten war den Gefangenen erlaubt – allerdings nicht in Rüstungs-betrieben. Viele arbeiteten in der Holz- und Agrarindustrie oder auf Farmen in der Umgebung. Für ihre Arbeit wurden sie gemäß den Genfer Konventionen bezahlt. Es gab sogar einen von deutschen Kriegsgefangenen herausgegebenen Newsletter, „Der Scheinwerfer“, mit Zeichnungen und Artikeln. Außerdem konnten sich die Gefangenen weiterbilden, Englisch lernen und sich mit der US-Geschichte vertraut machen.
Postverkehr: Verbindung zur Heimat
Kriegsgefangene hatten das Recht, Post zu empfangen und zu versenden. Die Briefe und Postkarten wurden jedoch sowohl von deutscher als auch von amerikanischer Seite streng auf geheime Botschaften geprüft.
Wo sind die Briefe meines Vaters?
Bis heute frage ich mich: Wo ist die Feldpost meines Vaters? Wo sind die Briefe aus seiner Gefangenschaft? Leider gibt es keinen einzigen Brief oder eine Karte meines Vaters an seine Familie – weder aus Kriegszeiten noch aus der Gefangenschaft. Hatte seine Mutter, meine Oma, nicht auch die Briefe ihres jüngsten Sohnes Gerhard zusammen mit der Feldpost ihrer gefallenen Lieblingssöhne in ihrem großen Eichenschrank, ihrem Schrein, aufbewahrt? Oder hat meine Tante Lore, Omas jüngste Tochter, die Briefe nach Omas Tod zusammen mit vielen anderen Erinnerungsstücken entwendet? Es würde mich nicht überraschen, aber ich werde es wohl nie erfahren. Ärgern tut es mich trotzdem.
DAS KRIEGSSCHICKSAL MEINER SCHLESISCHEN MUTTER